Halle und das Thema Sprach- und Kulturkontakt

Die 20. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft 1998 (4.-6.3. 1998) und die im Rahmen des Kongresses gestaltete Ausstellung "Halles Wege in die Welt - eine interkulturelle Spurensuche" (2.3.-4.5.1998) stehen unter dem gemeinsamen Thema Sprachkontakt bzw. - in einem weiteren Verständnis - Sprach- und Kulturkontakt. Die Gastgeber, Prof. Dr. Gerd Antos, Prof. Dr. Ralph Ludwig und Prof. Dr. Gerhard Meiser (sowie die Arbeitsgruppe Sprach- und Kulturkontakt an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) haben die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft sowie Gäste aus dem In- und Ausland nach Halle eingeladen. Erwartet werden ca. 400 Kongreßteilnehmer aus Deutschland, Europa, Asien, Afrika und Amerika.

Die Pflege enger kultureller Beziehungen der Stadt Halle mit zahlreichen Ländern der Erde läßt sich bis ins frühe 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Das 1702 von Francke gegründete Collegium orientale theologicum, das ursprünglich als Collegium universale geplant war, sollte zunächst griechische und türkische Studenten aufnehmen, einerseits, um diese auf die missionarische Tätigkeit vorzubereiten; andererseits sollten die Muttersprachler unterschiedlichster Sprachen miteinander in Kontakt kommen und vom jeweiligen muttersprachlichen Unterricht profitieren. Denn nicht nur Studenten wurden erwartet, sondern auch Sprachlehrer, die neben den 'alten Sprachen' auch Neugriechisch und Türkisch, Chaldäisch, Syrisch, Arabisch, Äthiopisch (sowie slawische Sprachen) lehren sollten. Sehr bald konnte auch Salomo Negri, ein ausgezeichneter Sprachkenner, für die Vermittlung orientalischer Sprachen in Halle gewonnen werden. Die in den Stiftungen ausgebildeten jungen Prediger, Ärzte, Lehrer und Naturforscher hielten per Korrespondenz Kontakt zu Francke. In diesem Zusammenhang schreibt der Begründer des Halleschen Pietismus, August Hermann. Francke, im Jahre 1703 in begeistertem Ton an seinen sich in Konstantinopel aufhaltenden Mitarbeiter Herrnschmidt:

"[Wir erwarten] aus dem Orient eine ganze Gesellschaft. Wenn sie wohl herkommt, haben wir ein ganzes Haus, darin nichts als türkisch und neugriechisch geredet wird."

Im Textzusammenhang kommt die große Vorfreude auf die Gäste aus fremden Ländern zum Ausdruck. Das Zitat stimmt nachdenklich, bezieht man es auf die für Deutschland zur Zeit viel besprochenen Migrationsprobleme und Mentalitätskonflikte.

Seit dem Beginn der Vorlesungen Franckes in Halle (1692) war die Zahl der Studierenden stark gestiegen: Zählte die Universität 1690 nur 19 eingeschriebene Hörer, waren es seit 1703 durchschnittlich 650; damit war Halle eine der besuchtesten deutschen Universitäten im 18. Jahundert. (Zum Vergleich: heute sind in der Martin-Luther-Universität allein 692 ausländische Studierende aus 96 verschiedenen Ländern eingeschrieben.) Ausländische Studierende kamen im 18. Jahrhundert aus England, Frankreich, Skandinavien, dem Baltikum, Rußland, der Ukraine und aus den südslawischen Ländern, wenig später auch von anderen Kontinenten. Der erste afrikanische Student an einer europäischen Universität war Anton Wilhelm Amo Afer aus Axim im heutigen Ghana, der sich 1727 als Student der Medizin in die Matrikel der Halleschen Universität einschrieb. Seine phil. Dissertation "De humanae mentis" aus dem Jahr 1734 wird in der Ausstellung zu sehen sein.

Halles "Wege in die Welt" führten also oftmals auch wieder nach Halle zurück, so daß aus der Stadt langfristige Impulse zum Thema Sprachkontakt ausgingen. Ein beredtes Beispiel ist das folgende: Da im 18. Jahrhundert in Berlin niemand die türkische Sprache beherrschte, schickte Friedrich Wilhelm I. Briefe zur Übersetzung nach Halle.

Die hallesche Förderung der Kenntnisse über fremde Sprachen und Kulturen war zwar in ihren Anfängen stark missionarisch motiviert, doch ging schon das Interesse Franckes darüber hinaus in den wissenschaftlichen Bereich. Dies kann etwa die Quellensammlung über das Alltagsleben der ärmsten Bevölkerungsgruppen im Baltikum und in Südostindien belegen. In diesem Zusammenhang ist eine rege Übersetzungstätigkeit sowie die Erstellung von Grammatiken und (teils polyglotten) Wörterbüchern zu beobachten; hinzu kommen wissenschaftliche Forschungen, von denen besonders die sprachwissenschaftlichen Arbeiten umfangreich und bis heute anerkannt sind. Die berühmte Dänisch-Hallesche Mission gründete ihre Kommunikationspraxis hauptsächlich auf Portugiesisch (in Südostindien verbreitet) und Tamil (dominierende lokale Sprache in Südindien). Im Mittelpunkt der halleschen Bestrebungen stand die Übersetzung der Bibel bzw. von Teilen der Bibel in unterschiedliche indische Sprachen (Tamil, Telugu, Hindustani). Dokumente, die auf vergleichende linguistische Forschungen der Missionare schließen lassen, sind v.a. Wörterbücher und Grammatiken. Der Francke-Schüler Benjamin Schulze (1689-1760) erstellte eine "Grammatica Hindostanica" (Halle 1745) und eine "Grammatica Telugica" (Madras 1728), die in der Ausstellung in Manuskripten zu sehen sein werden. Im Verlauf seiner Arbeit an der Übersetzung von Teilen des Alten und Neuen Testaments entstand zudem ein viersprachiges Wörterbuch (Latein, Englisch, Tamil, Telugu).

Der Diplomat und Sprachkundler Heinrich Wilhelm Ludolf bereiste neben den slawischen Ländern und Armenien auch fast den gesamten Orient; Ludolf war es auch, der wohl als erster anregte, Bücher in den unterschiedlichsten Sprachen in Halle selbst drucken zu lassen. So ist der Kontakt mit den zahlreichen Sprachen zum Auslöser für die berühmte Tradition Halles als Stadt des Drucks geworden: Bekannt sind die Cansteinschen Bibelanstalten sowie der Niemeyer-Verlag; weniger bekannt dürfte sein, daß in Halle weit früher als in anderen europäischen Städten Drucklettern für das Kyrillische, Griechische, Hebräische und viele weitere Sprachen zur Verfügung standen. Aus dem Verkauf der Bücher in den unterschiedlichsten Ländern konnten weitere Reisen in die Ferne finanziert werden, da die Drucke ausgezeichnet "an den Mann zu bringen" waren (Ludolf).

Halle gilt nicht nur als Wiege der deutschen Orientalistik, sondern als wesentlicher Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde (durch die Herausgabe der ersten russischen Grammatik durch o.g. Heinrich Wilhelm Ludolf im Jahr 1696). Als Folge der Halleschen Rußland-Kontakte wurden z.B. auch Kinder hoher russischer Hofbeamter nach Halle geschickt, so daß man von einem frühen 'Schüleraustausch' sprechen könnte. Aus heutiger Sicht modern in mehrfacher Hinsicht gilt auch Johann Severin Vater, der 1808 als "Professor der Theologie und der morgenländischen Sprachen und Bibliothekar der Universität zu Halle" eine der Akademie der Wissenschaften zu Petersburg gewidmete Praktische Grammatik der Russischen Sprache schrieb. Jüngst wurde auf die wegweisende Darstellung des russischen Verbums durch Vater hingewiesen. Außerdem ist bereits die heute wichtige Perspektive auf das 'itzt', d.h. den in seiner Zeit aufzuzeichnenden usus der geschriebenen und gesprochenen Sprache hinzuweisen. Neben dem Russischen beschäftigte sich Vater mit sehr unterschiedlichen Sprachen wie dem Hebräischen, Arabischen, Türkischen, Französischen, Deutschen und den "alten Sprachen" Perus und Mexikos.

Die vielfältigen kulturellen 'Kontakt-Traditionen' Halles seit dem frühen 18. Jahrhundert wurden folglich im 19. und 20. Jahrhundert vor allem von universitärer Seite fortgesetzt. Bedeutende Universitätsprofessoren - genannt sei hier nur der Indologe und allgemeine Sprachwissenschaftler Friedrich August Pott (Professor in Halle 1833-1887) - waren Gründungsmitglieder der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG), der ersten orientalischen Gesellschaft in Deutschland. Beispiele für die Erforschung des Morgenlandes sind zahlreiche Kunstschätze, die Wissenschaftler von ihren Forschungsreisen nach Halle mitgebracht haben. So werden z.B. indische Palmblatthandschriften und eine kostbare Koranhandschrift zu den Exponaten der Ausstellung zählen.

Über die vielfältigen Kontakte August Hermann Franckes zum Ausland und deren Auswirkungen auf das Leben an den Franckeschen Stiftungen ist schon früher berichtet worden, eine thematische Ausstellung wird noch in diesem Jahr erwartet. Ein Anliegen der aktuellen Ausstellung "Halles Wege in die Welt - eine interkulturelle Spurensuche" soll es daher sein, die kulturellen Kontakte hallescher Universitätsprofessoren der unterschiedlichsten Fakultäten vorzustellen. An Beispielen soll der Ausbau der weltweiten Beziehungen aufgezeigt werden, die durch Forschungsaufenthalte neu geknüpft bzw. gefestigt wurden, um sie für deutsche und ausländische Studierende nutzbar werden zu lassen. So wird beispielsweise der Entstehung der Archäologischen Sammlungen durch die Altertumswissenschaftler Ludwig Ross, Heinrich Heydemann und Carl Robert und dem Bau des Archäologischen Museums (dem heutigen Robertinum) nachgegangen. Auch Julius Kühn, der Begründer der modernen Landwirtschaft, der als langjähriger Universitätsprofesssor die hiesige landwirtschaftliche Fakultät in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begründete und bis zu seiner Emeritierung kontinuierlich aufbaute, hatte seine Erfahrungen auf dem Gebiet der Tier- und Pflanzenzucht in vielen Ländern Europas und in den USA gesammelt und nicht zuletzt durch seine Reisen viele ausländische Studierende nach Halle gezogen.

Zum Abschluß dieses kurzen Überblicks über die Traditionen des Themas "Sprach- und Kulturkontakt" in Halle wünschen wir allen unseren in- und ausländischen Gästen eine gute Reise und zitieren in diesem Sinne noch einmal aus dem eingangs erwähnten Brief Franckes an Herrnschmidt: "[Wenn die Gäste eintreffen,] haben wir ein ganzes Haus, darin nichts als türkisch und neugriechisch geredet wird". Mögen diese beiden Sprachen stellvertretend für die vielen Sprachen stehen, die anläßlich von Tagung und Ausstellung in Halleschen Häusern - wie dem 'Melanchthonianum', dem 'Löwengebäude' und dem 'Waisenhaus' - in Kontakt treten werden; wir freuen uns darauf.

Sollten Sie noch Fragen haben, stehen wir Ihnen jederzeit zur Verfügung! Kontaktperson

 

Halle, den 20. Februar 1998