Cornelia Müller (Berlin):
Redebegleitende Gesten in spanischen und deutschen Gesprächen

(Reserve)

Gemeinhin gelten Unterschiede in der süd- und nordeuropäischen Gestenverwendung als charakteristischer kultureller Habitus. So wird der mit 'Händen und Füßen redende' Italiener, Spanier oder Franzose dem unbeweglichen steifen und eher verhaltenen Engländer oder Deutschen gegenübergestellt. Diese vermeintlichen interkulturellen Differenzen sind tief im Alltagswissen verankert. Diesem Stereotyp bin ich in meiner empirischen Untersuchung zu redebegleitenden Gesten in spanischen und deutschen Gesprächen nachgegangen. In insgesamt 20 dyadischen Alltagsgesprächen à 20 Minuten Länge habe ich Gesten, die im Verbund mit Bewegungsverben geäußert werden, nach Form und Bedeutung analysiert. Ich gehe davon aus, daß Bedeutung sowohl sprachlich als auch gestisch zum Ausdruck gebracht werden kann. Das Verhältnis von sprachlicher und gestischer Bedeutung habe ich mit Bezug auf die sprachtypologisch variierenden Lexikalisierungsmuster spanischer und deutscher Bewegungsverben untersucht. Dabei habe ich zunächst die realisierten Lexikalisierungsmuster der verwendeten Bewegungsverben kodiert und statistisch ausgewertet und dann erst die Semantik und Pragmatik redebegleitender Gesten sequenzanalytisch rekonstruiert, anschließend kodiert und schließlich statistisch ausgewertet.

Ein Ziel meiner Untersuchung war, den gewöhnlich unterstellten interkulturellen Differenzen im Gestengebrauch anhand von spanischen und deutschen Gesprächen exemplarisch nachzugehen und sie - soweit möglich - auf objektivierbare Eigenschaften redebegleitender Gesten zurückzuführen.

Auf folgende Aspekte der Gestenverwendung möchte ich im Rahmen des Vortrags näher eingehen: die Häufigkeit des Gestengebrauchs, die verwendeten Gestentypen, die Semantik sowie die Proxemik der Gesten. Das wohl überraschendste Ergebnis des interkulturellen Vergleichs betrifft Häufigkeit und Typen der verwendeten Gesten. Denn ganz entgegen der stereotypen Unterstellung gestikulieren spanische Sprecher weder häufiger als deutsche, noch verfügen sie über ein reicheres Gestenrepertoire. Deutliche Differenzen zeigten sich dagegen in der Semantik und der Proxemik der Gesten. Die Bedeutungen der Gesten folgen - sofern es sich um referentielle Gesten handelt - weitgehend der sprachtypologischen Variation spanischer und deutscher Bewegungsverben. Was die proxemischen Eigenschaften der redebegleitenden Gesten anbetrifft, so werden prototypische deutsche Gesten aus dem Handgelenk heraus realisiert, an prototypischen spanischen Gesten sind dagegen Hand und Unterarm beteiligt.

Als Fazit des interkulturellen Vergleichs kann festgehalten werden: Das Stereotyp des 'wild gestikulierenden' Südeuropäers läßt sich wesentlich auf die Proxemik der Gesten zurückführen. Spanische Sprecher gestikulieren beim Sprechen weder mehr noch anders als deutsche, sie gestikulieren lediglich raumgreifender, und ihre Gesten sind deshalb sichtbarer. Daher rührt der Eindruck eines lebhaften und ausufernden Gestengebrauchs bei Südeuropäern.

Interkulturelle Übereinstimmung zeigt sich dagegen im systematischen Zusammenwirken von Sprache und Geste in der Kommunikation. Meine Untersuchungen zeigen, daß redebegleitenden Gesten keineswegs eine bloß illustrative - und deshalb von der linguistischen Forschung und Theoriebildung zu vernachlässigende - Funktion zukommt. Vielmehr gehen sprachliche und gestische Äußerung ein filigranes Zusammenspiel ein, das zu einer Profilierung sprachsystematisch, individuell und interaktiv relevant gesetzter Informationen in der Kommunikation führt. So werden etwa sprachsystematisch in den Hintergrund gerückte Informationen gestisch 'foregrounded'. Diesem Zusammenspiel muß eine linguistische Theoriebildung und Gesprächsanalyse prinzipiell Rechnung tragen.

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