Hans Christian Luschützky (Wien):
Empirie und Evidenz in der diachronen Phonologie

Donnerstag, 10.30 Uhr

Zum Unterschied von der diachronen Phonetik, die prinzipiell nicht weiter zurückhorchen kann, als Dokumente auf Tonträgern verfügbar sind (somit vier bis fünf Sprechergenerationen bzw. rund 120 Jahre), reicht der zeitliche Horizont der diachronen Phonologie so weit zurück, als Sprachdenkmäler in phonologisch interpretierbarer Schrift verfügbar sind (somit weit über hundert Sprechergenerationen bzw. rund vier Jahrtausende), und unter Berücksichtigung der Möglichkeiten phonologischer Rekonstruktion, etwa im Bereich der indogermanischen Sprachen, noch wesentlich darüber hinaus.

Durch die Historizität und die Zwischenschaltung des Mediums Graphie ist das Verhältnis der primären Daten zu den angestrebten phonologischen Erkenntnissen oder Verallgemeinerungen in der Diachronie um vieles komplexer als in der Synchronie. Komplex ist allein schon das Verhältnis eines schriftlich überlieferten Textes zu einem konkreten Sprachzustand: Verfügte der Schreiber über die graphischen Mittel, der phonologischen Struktur seiner Sprache gerecht zu werden? Wollte er das überhaupt? Schrieb er transkriptorisch, d.h. einen (gedachten) gesprochenen Text, oder transliteratorisch, d.h. auf der Grundlage anderer (unter Umständen älterer) geschriebener Texte? Befolgte er eine orthographische Norm? War er geübt oder ein Stümper? Die Informanten sind in der diachronen Phonologie nicht nur grundsätzlich einer direkten Befragung entzogen, sondern in vielen Fällen völlig unbekannt und nachträglich nicht mehr eruierbar. Wir wissen daher in der Regel wenig oder nichts über ihre soziale und geographische Herkunft, ihre geistige Verfassung und ihr daraus resultierendes Verhältnis zu der dem uns von ihnen hinterlassenen Text zugrundeliegenden Sprachform. Dennoch gewährt historisches Material bei genauer Betrachtung eine Fülle von Aufschlüssen über phonologische Mikro- und Makroprozesse.

Die diachrone Phonologie als theoretische Disziplin zeichnet nach rund hundertfünfzig Jahren Forschung ein sehr differenziertes Bild des Phänomens Lautwandel, das alle Ebenen lautsprachlicher Verhaltensmuster umfaßt und, je weniger die formalen Phonologietheorien zum Verständnis des Lautwandels beitragen (können? wollen?), umso eher auch außersprachliche Faktoren in den Erklärungsrahmen einbezieht.

Hauptströmungen der jüngeren Entwicklung sind die explizit phonetisch orientierte "Experimental Phonology", im Gefolge Ohalas und die mehr soziolinguistisch angelegte Forschung im Anschluß an Labov. Daneben ergeben sich neue Perspektiven der empirischen Arbeit durch die elektronische Verfügbarkeit historischer Textcorpora. Den technischen und methodischen Problemen und den Möglichkeiten und Grenzen der Heuristik in diesem neuen Evidenzbereich ist in Anbetracht der zu erwartenden Entwicklungen besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Literatur:

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