Robin Hörnig/ Sylvia Wiebrock/ Klaus Eyferth/ Ute Schmid/ Fritz Wysotzki (Berlin):
Inferenzen beim Textverstehen in räumlichen Mentalen Modellen

Donnerstag, 12.00 Uhr

Die sprachlich ausgedrückte Relation zwischen dem Referenten A und dem Relatum B in "A ist links von B." ist ambig, da der Ausdruck "links von" sowohl eine intrinsische wie auch eine deiktische Lesart erlaubt. Beide Lesarten unterscheiden sich darin, welches Bezugsystem für die Interpretation des Ausdrucks "links von" kritisch ist. Bei intrinsischer Lesart ist das kritische Bezugsystem dasjenige des Relatums. Bei deiktischer Lesart gilt als kritisches Bezugsystem das Sprecher- oder Hörer-Bezugsystem. Wir setzen im weiteren das egozentrische Bezugsystem des Rezipienten als kritisch voraus. Wird bei gegebener deiktischer Lesart bei einem kleinen Text (z.B. "A ist links von B. B ist links von C.") das egozentrische Bezugsystem im Äußerungskontext als konstant angenommen, so ist die Relation "links von" transitiv und erlaubt zu inferieren, daß A (deiktisch) links von C ist. Bei intrinsischer Lesart ist das für die Interpretation kritische Bezugsystem dasjenige des Relatums, und dieses ist bei den beiden Sätzen des Beispieltextes ein verschiedenes. Nur wenn die Bezugsysteme der Relata B und C in derselben Weise orientiert sind, gilt, daß A links von C ist. Dies erlaubt die Schlußfolgerung, daß eine deiktische Beschreibung in gewissem Sinne eine konsistentere Beschreibung über eine Objektanordnung liefert als eine intrinsische.

Wie setzen voraus, daß Menschen beim Verstehen einer Objektanordnungsbeschreibung ein räumliches Mentales Modell der beschriebenen Situation konstruieren. In unserer Modellierung Mentaler Modelle in Form annotierter Graphen wird jedes in einem Text erwähnte Objekt als Knoten repräsentiert und stellt ein dreidimensionales Bezugsystem bereit. Bei der Interpretation eines intrinsisch gelesenen Relationsausdrucks wird zwischen den Knoten des Referenten und des Relatums eine Kante eingetragen. Die Kante wird durch Constraints über die Objektposition des Referenten im Bezugsystem des Relatums annotiert. Bei der Modellierung der deiktischen Lesart (die derzeit noch aussteht) hat dieses Vorgehen zur Folge, daß alle Objektpositionen im Mentalen Modell übereinstimmend relativ zum egozentrischen Bezugsystem angegeben werden. Ein räumliches Mentales Modell klassifizieren wir dann als kohärent, wenn die Position jedes Objekts hinsichtlich eines gegebenen Bezugsystems spezifiziert ist. Ein solches Bezugsystem bezeichnen wir als räumliches Organisationsprinzip eines Mentalen Modells. Im vorgenannten Fall der deiktischen Lesart ist das egozentrische Bezugsystem als Organisationsprinzip anzusetzen, da sämtliche Relationsausdrücke egozentrisch interpretiert werden. Die Interpretation intrinsisch gelesener Relationsausdrücke führt hingegen zu einem Mentalen Modell, in dem die Anzahl der verschiedenen genannten Relata die Anzahl der Bezugsysteme bestimmt, hinsichtlich derer Objektpositionen im Mentalen Modell spezifiziert sind.

Die Psychologie des Textverstehens weist die Klasse derjenigen Inferenzen, die zur Etablierung von Textkohärenz notwendig sind, als Brückeninferenzen aus (v.a. für die Bestimmung ko-referenter Ausdrücke). Diese werden von Rezipienten bereits zum Enkodierzeitpunkt gezogen. Wir postulieren, daß Rezipienten auch im Falle von intrinsisch beschriebenen Objektanordnungen ein kohärentes Mentales Modell konstruieren, wofür Brückeninferenzen notwendig sind. Hierzu prüfen wir empirisch, ob sich solche Brückeninferenzen nachweisen lassen, und ob sich räumliche Mentale Modelle dadurch unterscheiden lassen, hinsichtlich welchen Bezugsystems Objektpositionen inferiert werden. Bezüglich dieser letzten Fragestellung stellen wir dem egozentrischen Bezugsystem ein allozentrisches Bezugsystem als mögliches Organisationsprinzip gegenüber.

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