Klaus von Heusinger/ Sabine von Heusinger (Konstanz):
Aus der lateinischen Fachsprache zur deutschen Mystik. Der lange Weg der Suffixe -ung und -heit.

Donnerstag, 09.00 Uhr

Der Einfluß des Lateins auf die Entwicklung des Deutschen ist lange und intensiv erforscht worden. Im allgemeinen wird dabei von vier Grundthesen ausgegangen: (i) Latein hatte im Althochdeutschen und dann wieder in der Humanistenzeit einen wichtigen Einfluß auf das Deutsche. Im Spätmittelalter hingegen wird Französisch als prägend angenommen. (ii) Bei dem Sprachkontakt wird meist nur das lexikalische Lehngut betrachtet (bzw. Syntax). Doch Wortbildungsprozesse werden wenig untersucht. (iii) Im Spätmittelalter (frühes Frühneuhochdeutsch) ist Latein durch das Deutsche auch als Gelehrtensprache abgelöst worden, z.B. bei der Gründung neuer Universitäten. (iv) Die Mystik hat mit ihren Bedürfnissen "das Unsagbare auszudrücken" wesentlich zu Neubildungen beigetragen.

In dem Vortrag werden die folgenden vier Gegenthesen vertreten: (i) Latein beeinflußt durchgehend das Deutsche. Im Spätmittelalter besonders durch die systematische Entlehnung der Funktionsweise von Derivationssuffixen. (ii) Neben lexikalischer Entlehnung müssen auch andere grammatische Bereiche betrachtet werden. Es bieten sich sprachkreative Bereiche wie Wortbildung an, in denen die Sprache nach formalen und inhaltlichen Vorbildern sucht und über ihren synchronen Rahmen hinaus geht. (iii) Das Latein als Gelehrtensprache beeinflußt auch das Deutsche, das an seine Stelle tritt. Vor allem durch klare Muster, neue Begriffe zu bilden. (iv) Die Mystik gebraucht die Wortbildungsmuster, die in der Scholastik, d.h. an den Universitäten, nach dem Vorbild des Lateins gebildet wurden.

Diese Thesen stützen sich auf die Untersuchung von Abstraktabildungen in der Sprache der Mystik im Spätmittelalter. Es kann gezeigt werden, daß Latein auch in der morphologischen Wahl der Suffixe systematisch als Vorlage gedient hat: Mhd. -ung(e) entspricht lat (t)io, z.B. visio > anschouwunge, während mhd. -heit, -keit parallel zu lat. -tas gebildet wurde, z.B. entitas > wesenheit. Viele dieser Bildungen sind im Laufe der Zeit in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen worden, was auf die innovative Kraft der sogenannten "Sprache der Mystik" hinweist.

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