Ocke-Schwen Bohn (Aarhus)/ Winifred Strange (University of South Florida)/ Linda Polka (McGill University):
Akustische Korrelate der Identität koartikulierter deutscher Vokale in der Wahrnehmung von erwachsenen Muttersprachlern, vorsprachlichen Kleinkindern und erwachsenen Nicht-Muttersprachlern

Mittwoch, 14.00 Uhr

Aus früheren Untersuchungen zur Wahrnehmung koartikulierter amerikanisch-englischer (AE) Vokale ist bekannt, daß drei Typen akustischer Information zur Vokalidentität beitragen: Information über die Vokaldauer, die spektralen Ziele (Formantenminima oder -maxima im Vokalkern) und die spektrale Dynamik an den Silbenrändern (Strange 1989). Diese Untersuchungen haben gezeigt, daß im AE die Vokalidentität durch dynamisch-spektrale Information mindestens genauso gut spezifiziert wird wie durch die Zielinformation, und daß temporale Information von nachrangiger Bedeutung ist.

Dieser Vortrag berichtet über mehrere Versuchsreihen, in denen der Beitrag der drei Typen akustischer Information zur Wahrnehmung koartikulierter norddeutscher (ND) Vokale bei verschiedenen Hörergruppen untersucht wurde. Ebenso wie im amerikanischen Englisch hat das Norddeutsche ein relativ umfangreiches Vokalinventar, in dem Vokalpaare durch das akustische Korrelat der Gespanntheit und durch die Vokaldauer unterschieden werden. Ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Sprachen besteht darin, daß sämtliche AE Vokale mehr oder weniger diphthongiert sind, während die hier untersuchten norddeutschen Vokale keine inhärente spektrale Dynamik aufweisen.

Unsere Versuche zur Identifikation und Diskrimination koartikulierter ND Vokale durch erwachsene Muttersprachler ergaben, daß auch diese Hörer die Vokale ihrer Muttersprache sehr gut perzeptuell differenzieren können, wenn ihnen ausschließlich dynamisch-spektrale Information (in sogen. "Silent Centers") präsentiert wird. Spektrale Zielinformation genießt keinen privilegierten Status bei der Wahrnehmung koartikulierter Vokale, und temporale Information ist von geringer Bedeutung (Bohn & Strange 1995, Strange & Bohn 1997).

In weiteren Versuchsreihen wurde u.a. die Rolle sprachlicher Erfahrung bei der Nutzung dynamisch-spektraler Information untersucht. Die Ergebnisse zur Diskrimination koartikulierter ND Vokale durch vorsprachliche Kleinkinder zeigen deutlich, daß auch für diese Hörer die spektrale Dynamik an den Silbenrändern genügend Information enthält, um Vokalkategorien zu differenzieren, und daß spektrale Zielinformation hierzu nicht notwendig ist. Anders als erwachsene Muttersprachler sind vorsprachliche Kleinkinder jedoch in gewissem Maße von der Verfügbarkeit temporaler Information abhängig (Bohn & Polka 1995).

In einer dritten Versuchsreihe wurde der Beitrag der drei Typen akustischer Information für die Identifikation von ND Vokalen bei erwachsenen Hörern mit Dänisch bzw. AE als Muttersprache untersucht. Wie erwartet waren die Identifikationsleistungen der Nicht-Muttersprachler geringer als die der Muttersprachler. Interessanter aber ist das Ergebnis, daß auch Nicht-Muttersprachler dynamisch-spektrale Information mindestens genauso effektiv nutzen wie Zielinformation (Bohn 1997).

Der Vortrag diskutiert die Ergebnisse unserer Untersuchungen im Hinblick auf Theorien der Vokalwahrnehmung und im Hinblick auf die Rolle sprachlicher Erfahrung bei der Nutzung unterschiedlicher Typen akustischer Information.

Literatur:

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